Seekrankheit - Reisekrankheit - Kinetose

Krank vor Bewegung

Shakespeare lässt im „Hamlet“ den alten König mit dem Gift des Bilsenkrauts ermorden, das ihm im Schlaf von seinem Bruder ins Ohr geträufelt wird. Das Gift, in einem speziellen Pflaster hinter das Ohr geklebt, dient heute dazu, Seekrankheit zu bekämpfen. Es kommt eben immer, so lehrte erstmals der deutsche Medizinforscher Paracelsus (1493 – 1541), auf die Dosis an.

 

Es gibt einiges, was gegen Seekrankheit hilft, vom Hausmittel Ingwer über Wirkstoffpflaster bis hin zu Zäpfchen und Tabletten. Bei den Medikamenten gilt es, die Nebenwirkungen einzukalkulieren. Die wirkungsvollste Strategie gegen Reisekrankheit besteht in der Kombination mehrerer Verfahren (siehe unten).

 

Vom englischen Seehelden Admiral Nelson (1758 – 1805) wird erzählt, dass er nach jedem längeren Landaufenthalt erneut seekrank wurde. Aber bis es ins Gefecht ging, hatte er seine Seebeine wiedergewonnen. Gewöhnung ist, wenn man Zeit hat, immer noch das beste Mittel gegen den sich aufbäumenden Magen.

 

Die wirksamsten Medikamente setzen nicht nur die Anfälligkeit für Seekrankheit herab, sondern auch die Reaktionsfähigkeit. Deshalb bekommen deutsche Marinesoldaten, die ja auch bei Sturm im Schiffsinnern hellwach Computer und Maschinen bedienen sollen, möglichst keine Medikamente gegen Seekrankheit. Sie werden durch Gewöhnung seefest gemacht, wie einst Nelson.

 

Reisekrankheit, Seekrankheit, Flugkrankheit, Raumkrankheit – das sind verschiedene Namen für ein Leiden, die Kinetose, auch Bewegungsschwindel genannt (im Gegensatz zum Höhenschwindel). Das Wort Kinetose ist aus dem griechischen Wort für Bewegung abgeleitet. Das englische Wort für Seekrankheit, nausea, ist direkt aus dem Lateinischen (nauta, der Seemann) übernommen. Das Leiden ist so alt wie die Seefahrt selbst.

 

Es hat aber nichts mit dem Wasser zu tun, sondern mit Bewegungskräften, die in ungewohnter Weise auf den Körper einwirken. Das Auf und Ab im Seegang ist eigentlich nicht schlimmer als auf einer Gartenschaukel, es ist nur viel langsamer. Die Bewegungen im Auto oder im Flugzeug sind weniger wild als in der Achterbahn, sie sind vor allem unberechenbarer.

 

Man kann in jeder Art von Fahrzeug seekrank werden. Nur Autofahrer, die selbst hinterm Steuer sitzen, sind immun, und auch Säuglinge, deren innere „Bewegungsmelder“ sich erst noch entwickeln. Ältere Kinder dagegen sind meist empfindlicher als Erwachsene, denn sie verfügen bereits über die volle Wahrnehmung für Bewegungsreize, haben aber noch nicht so gut gelernt, diese in jeder Situation miteinander in Einklang zu bringen.

 

Wenn nur genug Strapazen zusammenkommen, erwischt es aber auch die Härtesten: Astronauten werden beim Training auf einem Drehstuhl bis zur Übelkeit maltraitiert, Bundeswehrpiloten kommt bei Notfallübungen in der Rettungsinsel gelegentlich das Frühstück hoch. Fische und Vögel können in bewegten Aquarien und Käfigen „seekrank“ werden, nicht aber in Freiheit. Schweine sind immun.

 

Wie stark die Reisekrankheit einen packt, ist höchst unterschiedlich. Es kann einem etwas mulmig werden, es kann einem auch speiübel sein. Man kann die verschiedenen Stadien, vom „kalten Schweiß“ bis zum Erbrechen, manchmal im Flugzeug beobachten. Es gibt Segler, die im Gesicht regelrecht grün werden (weil Galle ins Blut kommt) und trotzdem voll einsatzfähig sind. Andere liegen apathisch in den Kojen und fühlen sich sterbenskrank, obwohl sie es keineswegs sind. Angst – etwa im Flugzeug oder bei Sturm auf See – erhöht biochemisch die Neigung zur Reisekrankheit.

 

Meistens gewöhnt sich der Körper innerhalb von zwei, drei Tagen an die Bewegung. Dann ist die „Krankheit“ vorbei. Manche brauchen sehr viel länger, die wenigsten Menschen gewöhnen sich gar nicht daran. Dass die Seebeine jedesmal erneut erworben werden müssen (wobei es beim zweitenmal schon schneller geht), ist normal. Das sicherste Rezept gegen die Reisekrankheit ist: die Reise beenden oder wenigstens unterbrechen. Auf See und im Flugzeug ist das kaum möglich, auf Autofahrten schon.

 

Als Ursache der Kinetose gilt das Ansteigen des Histamin-Spiegels im Blut. Histamin ist ein Botenstoff, den der Körper in der Haut, in den Magenschleimhäuten und im Nervensystem selbst produziert, der aber auch in vielen Nahrungsmitteln vorkommt. Histamin spielt bei allergischen Reaktionen und im Nervenstoffwechsel eine Rolle, und es wirkt direkt auf das Brechzentrum im Gehirn.

 

Neben den Antihistaminika wird auch das Gift des Bilsenkrauts gegen Seekrankheit eingesetzt, das hochwirksame Scopolamin. (Es ist übrigens auch in der Tollkirsche enthalten.) Es wird mit einem Pflaster allmählich über die Haut ins Blut abgegeben. Darüber hinaus werden beruhigende Mittel wie Valium empfohlen, sie wirken reizdämpfend. Homöopathischen Mitteln wird eine allgemein stabilisierende Wirkung zugesprochen. Von Vitamin C ist bekannt, dass es Histamin bindet und so die Anfälligkeit für Seekrankheit bereits vor und zu Beginn der Reise senken kann. Die erfolgreichste Methode besteht aus der Kombination eines geeigneten Medikaments mit den richtigen Verhaltensweisen.

 

Warum wir seekrank werden

 

Der Körper hat drei Gleichgewichtssysteme. Das wichtigste sitzt im Ohr, es reagiert auf Bewegung, Beschleunigung, Verzögerung. Aber auch unsere Fußsohlen, der Magen und das Gesäß melden unserem Gehirn, wenn das Auto eine Kurve fährt oder der Flieger in ein Luftloch sackt. Wobei unsere Nerven zwischen der „echten“ Fliehkraft bei einer Kurvenfahrt und der plötzlichen Neigung der Sitzfläche nicht unterscheiden können.

 

Ob Schwerkraft oder Fliehkraft, Beschleunigung oder Verzögerung an ihm zerren, diese Information liefern dem bewegten Mann erst die Augen, unser drittes Gleichgewichtssystem. Fahrsimulatoren mit geschlossenen Kabinen, die heute in vielen Vergnügungsparks stehen, gaukeln uns rasante Autorennen oder Achterbahnfahrten vor, obwohl sie uns nur an Ort und Stelle hydraulisch hin und her und vor und zurück kippen und dabei durchrütteln. Der Bildschirm im Innern der Kabine lässt uns die Signale aus dem Sitzfleisch und dem Innenohr falsch interpretieren.

 

Wenn unsere Gleichgewichtssysteme reibungslos zusammenarbeiten, ermöglichen sie uns den aufrechten Gang und geschickte Ausgleichsbewegungen. Sie helfen uns, einen Sturz zu vermeiden oder uns bei einem Fall geschickt abzufangen.

 

Wenn unsere Gleichgewichtssysteme sich gegenseitig irritieren, können wir seekrank werden. Manchen Menschen wird im Auto schlecht, sobald sie versuchen, ein Buch zu lesen, und damit die Landschaft aus dem Blick verlieren. Das "System Auge" hilft uns am besten, die widersprüchlichen Informationen richtig einzuordnen.  Auf Segelbooten wird der Skipper einen Mitsegler, dem flau im Magen wird, ans Ruder setzen oder eine andere Aufgabe an Deck geben. Erst wenn die Seekrankheit einen voll gepackt hat, heißt es: ab in die Koje, Spuck-Eimer daneben (und nach Gebrauch sofort leeren, sonst droht das nächste Problem).

 

Raumfahrtärzte und Marinemediziner sind sich darüber einig, dass jeder reisekrank werden kann, wenn sein Nervensystem nur lange und hart genug strapaziert wird. Angst, Müdigkeit, Kälte, Hunger und Durst vergrößern die Anfälligkeit für Seekrankheit.

 

Es gibt auch eingebildete Reisekrankheit, man bezeichnet sie als Pseudo-Kinetose. Der Hamburger Marine-Sammler Peter Tamm kriegt mitunter ein mulmiges Gefühl im Bauch, wenn er das tosende Meer auf einem Gemälde von Johannes Holst sieht. Mancher verträgt den Geruch eines Autos, einer Yacht, eines Flugzeugs nicht. Auch dagegen helfen Tabletten. Oder die innere Stimme, die uns rät: „Jetzt stell dich mal nicht so an.“ Reisekrankheit ist schließlich keine Krankheit, sondern eine unangenehme, aber harmlose Störung, und wenn man keine Angst davor hat, ist man weniger anfällig dafür.

 

 

Gar nicht übel!

Vorbeugung gegen Reisekrankheit

 

Vor der Fahrt histaminhaltige Lebensmittel meiden (Tomaten, Spinat).

Alkohol meiden

Hochdosierte Vitamin-C-Tabletten (bis zu 3 Gramm pro Tag) nehmen. Vitamin C unterstützt den Histamin-Abbau.

Kindern Hörbuch (statt Lesebuch) anbieten

Im Auto das Fahren übernehmen (es wird nur Mitfahrern schlecht, nie dem Fahrer)

Im Bus (vor allem bei Gebirgsfahrten): Zwischen den Achsen sitzen, nicht vorn, nicht im Heck.

Auf dem Wasser: Warme, trockene Kleidung anziehen, Tee trinken. Aufs Klo gehen, solange das Wetter noch gut ist.

Wenig und nur leicht verdauliches essen (wenig Fett, kein Fleisch oder Fisch)

Auf großen Schiffen: An Deck in Lee (Windschutz-Seite) aufhalten. Das hilft auch nachts.

Auf Segelbooten: In Luv sitzen, mit Karabinerleine sichern, das Steuern übernehmen oder dem Navigator an Deck helfen (Ausguck halten, Verkehr und Seezeichen beobachten, an Manövern teilnehmen). Unter Deck wird einem oft erst richtig schlecht.

 

Wenn schlafen möglich ist, dann schlafen! Im Schlaf sinkt der Histaminspiegel.

 

Kein homöopathisches Mittel mit einem anderen Seekrankheitsmittel kombinieren

 

Keinen Alkohol trinken. Er kann zwar die Wirkung eines Medikaments verstärken, aber auch abschwächen. Und er erhöht die Neigung zu Übelkeit.

 

Vitamin C und histaminarme Ernährung und der Wirkstoff Scopolamin ergänzen sich gut. Das Pflaster 6 Stunden vor der Reise anlegen. Bei Bedarf – also erst, wenn einem tatsächlich übel wird – ein niedrigdosiertes Antihistaminikum zusätzlich einnehmen.

 

Tabletten sind gut zur Vorbeugung, aber ungeeignet, wenn einem bereits schlecht ist und man befürchtet, sich demnächst zu übergeben. Dann kommen Tabletten nur bis zum Magen (und zurück), nicht aber bis in den Dünndarm, wo die Wirkstoffe ins Blut aufgenommen werden. Zäpchen wirken fast so schnell wie Spritzen, weil die Wirkstoffe sofort an der Darmschleimhaut ankommen.