Zur Sonne, zur Freizeit

 

Die Nation ist immer noch gespalten bei der Frage: Wieviel soll der Mensch anziehen, wenn er sich in der Natur bewegt, etwa am Meer? Nichts, sagt der harte Kern der Nudisten, von denen es im Osten mehr gibt als im Westen. Die "Frankfurter Allgemeine" erklärt das Phänomen damit, dass im Sozialismus wenigstens die Körper frei sein sollten, wenn es die Gedanken schon nicht waren.

Aber das ist zu kurz gesprungen, man muss da schon weiter zurückgehen, etwa bis zum Sündenfall im Garten Eden. "Da wurden ihnen beiden die Augen geöffnet, und sie erkannten, dass sie nackt waren; und sie banden sich Feigenblätter um und machten sich Schurze" (1. Mose 3,7). Die Sünde bestand allerdings nicht darin, nackert umherzulaufen, sondern vom Baum der Erkenntnis genascht zu haben. Es irritiert keinen gebildeten Menschen, Amazonas-Indianer oder Buschmänner nackt zu sehen, dass aber das Volk der Dichter und Denker sich ungekleidet am Ostseestrand… nein.

Sowohl Kleidung als auch ihr Gegenteil eignen sich zum Provozieren. Der Westen hatte seine kleinen Nacktskandale auf Sylt (Buhne 16), wo heute die Nackten ebenso ungezwungen herumlaufen wie im Osten, und am Eisbach im Englischen Garten (München). In Berlin (West) lag man nackt am Halensee, an der Ostsee (West) gibt es ein Reservat bei Scharbeutz, wo militante FKKler einen schon bissig ansehen, wenn man ihren Strandabschnitt in Badehose überquert. In der DDR gab es zum Schluss 80 Nacktbadestrände, die Dunkelziffer war deutlich höher.

Die Freikörperkultur (FKK) und der Nudismus sind über hundert Jahre alt, und dafür mag es biologische Gründe geben. Sonnenbäder sind das beste Mittel gegen Vitamin-D-Mangel, der zu Knochenerweichung (Rachitis, Englische Krankheit) führt. Diese Mangelkrankheit trat im beginnenden Industriezeitalter bei Kleinkindern und Kranken auf, die aus ihren dunklen Mietkasernen, Hinterhöfen und Kellerlöchern nicht herauskamen. Auch die Russen, die sich im März in Badehose und geöffnetem Wintermantel den ersten Frühlingssonnenstrahlen stellen, beugen Vitramin-D-Mangel vor. Die Haut bildet im Sonnenlicht binnen weniger Stunden davon hundertmal soviel, wie man mit der Nahrung aufnehmen kann.

Nacktsein ist also gesund, und manche finden es befreiend. Aber befreiend wovon? Von den Zwängen, die uns Sitten, Glaube und Moral auferlegen? Engländer gehen mit der Badehose in die Sauna, Schweden saunen nackt und laut lachend, aber nach Geschlechtern getrennt. Die Finnen halten auch mal geschäftliche Besprechungen in der Sauna ab. Die Deutschen baden immer nackter, leider gehen sie im Ausland auch mit nacktem Oberkörper ins Hotel-Restaurant, was die einen völlig normal finden und die anderen, etwa die Ausländer, ein Unding. Deutsche, die auf Usedom nackt die ungesicherte Grenze zum EU-Nachbarn Polen überschreiten, sind den Polen ein Dorn im Auge.

Nacktbaden kann nach deutschem Recht das "Erregen öffentlichen Ärgernisses" sein, wenn es als "sexuelle Handlung" oder Provokation gemeint ist. Das Nacktbaden im Stadtpark wird, wenn es genügend Leute gemeinsam tun (Halensee, Englischer Garten) zum Gewohnheitsrecht. Frauen, die nackt durch die Stadt spazieren, sind rar, sie tun’s eigentlich nur, wenn sie mit einem fotografen befreundet sind. Flitzer beim Fußballspiel kommen ins Fernsehen und haben anschließend Hausverbot im Stadion.

Bei den antiken Olympischen Spielen und in den griechischen Gymnasien (Sportschulen) waren die Athleten nackt, heute ist das undenkbar. Wenn Michael Phelps mal ausgiebig nackt schwimmen will, sollte er am besten nach Mecklenburg-Vorpommern fahren. Übrigens war auch in der DDR in den 50er Jahren das Nacktbaden verboten, aber der prüde Staat konnte sich in diesem Punkt nicht gegen die Diktatur des Proletariats ("Brüder, zur Sonne, zur Freiheit") behaupten. Nach der Genehmigung des 81. offiziellen Nacktbadestrandes brach das System zusammen.